Zum Duzen und Siezen in der Universität
Prof. Dr. Moritz Klenk, Hochschule Mannheim
Seit Jahren ringe ich um die richtige Anrede in universitären, öffentlichen und anderen professionellen Kontexten. Im Folgenden möchte ich meine aktuellen Überlegungen und Schlüsse offenlegen. Meine Umgangsweise kann sich ändern, vielleicht wird mich einiges davon irgendwann nicht mehr überzeugen, vielleicht kommen neue Argumente hinzu. Wie Sprache überhaupt, so bin ich der Überzeugung, ist auch unsere je eigene, individuelle Umgangsweise mit ihr, ihr Gebrauch und dadurch der tätige Eingriff, die Affirmation eines bestimmten Sprachgebrauchs oder kritische Intervention im anderen Fall, eine fluide, sich beständig wandelnde und anzupassende Praxis.
Ich wuchs in einem Haushalt auf, in dem Wert auf ›richtige‹ Umgangsformen gelegt wurde; man siezte Erwachsene, Fremde, lose Bekannte, Menschen in der Öffentlichkeit – und falls einmal eine Situation uneindeutig war, dann war man immer besser beraten zu siezen, als zu duzen. Meinen Eltern waren die Differenzen, die »feinen Unterschiede«, nur zu bewusst: man durfte sich die einfache Herkunft unter keinen Umständen anmerken lassen, zu viel stand auf dem Spiel; die Bildung der Bildungsaufsteiger war gegen so viele Widerstände hart errungen. In der Schule war dies zu meiner Schulzeit selbstverständlich nicht anders. Schüler:innen wurden geduzt, mussten umgekehrt jedoch siezen. Für Kinder gelten wohl andere Regeln, sie sind nie echter Teil von Gesellschaft. Mit dem Erreichen der Volljährigkeit wurde uns dann das »Sie« angeboten, als zweischneidiges Symbol unserer Aufnahme in die Bürger:innenschaft, in die Gesellschaft der gleichen Individuen.
Heute mag vielleicht eine stärkere Verbreitung des Englischen »Ihrzens«, welches weitgehend als Duzen verstanden (missverstanden?) wird, zu einem Aufweichen jener Sprachpraxen führen. Möglicherweise lässt sich das schon in der Schule beobachten, doch vermag ich das nicht einzuschätzen. Nur wie geht man damit an der Hochschule und Universität um?
Als ich nach dem Studium praktisch nahtlos vom Status des Studenten in den des Dozenten – noch an der selben Universität, an der selben Fakultät und im selben Fach – wechselte, kam ein Siezen nicht infrage. Noch ein Semester zuvor sass ich zum Teil mit denselben Studierenden als einer von ihnen im Seminar; der Unterschied schien mir lächerlich, die Vorstellung absurd; diesen Wechsel nun mit dem »Sie« wie zu unterstreichen schien mir reine Anmassung. Doch machte ich in diesem ersten Semester als Dozent bereits zwei sehr seltsame Erfahrungen, die ich beide nicht erwartet hatte: zum einen die Begeisterung, die die Möglichkeit, einen Dozenten zu duzen, auslöste. Als wäre es etwas ganz Besonderes – dabei kannten wir uns ja schon längst. Es war mir ein Rätsel. Ich war schliesslich derselbe, vorher hat es ja auch niemanden interessiert, dass ich kein »Sie« verlangte und wir uns duzten. Zum anderen aber die sofortige seltsame Form der Übergriffigkeit, der ich mich ausgesetzt sah. Arbeits- oder Lektüreaufträge wurden bestenfalls als Empfehlung angesehen, mit kumpelhaften Hinweisen wurde ich davon in Kenntnis gesetzt, wenn jemand den Text nicht gelesen hatte oder sich nicht vorbereiten konnte, aber dennoch zum Seminar erschien. Ständige Zumutung von Smalltalk – zu welchem Zweck, wieso? Auch das war mir fremd. Wie kommt man auf so etwas? Heute denke ich, dass es naiv war, das nicht zu antizipieren, aber wirklich: ich wäre auf beide Ideen nicht gekommen.
Klar kenne ich die Freude jemanden, mit der:dem man lange zu tun hatte, vielleicht schon viele intensive Diskussionen führte irgendwann duzen zu können; die gemeinsam Nähe zur Sache und darüber zueinander ist etwas Besonderes; kritisches Denken ist eine Praxis der Freundschaft. Doch betrifft dies ja nicht alle, mit denen man irgendetwas zu tun hat, oder? Nicht jede, ja nicht einmal Seminarsituationen erfüllen die Bedingung der Freundschaft als Geschichte des gemeinsamen Gesprächs; vielleicht geht es auch nicht darum, sondern um gemeinsame Elemente von Freundschaft und offenem, freien Diskurs?
An der Universität in Friedrichshafen versuchte ich es dann mit dem Siezen; zunächst klassisch mit Siezen und der Anrede beim Nachnamen, doch musste ich das aufgeben. Ich habe ein schrecklich schlechtes Namensgedächtnis und es ist mir schlicht unmöglich, mir die Nachnamen von Studierenden zu merken, wenn sie diese untereinander nicht verwenden. Selbstverständlich sprechen sich Studierende untereinander beim Vornamen an, also wie könnte ich da mitkommen? Im zweiten oder dritten Semester wechselte ich daher zum Modell Siezen und Anrede beim Vornamen. Das stiess sowohl auf Verständnis als auch auf Zustimmung. Vielleicht, weil es nicht so fremd wirkte, vielleicht, weil es eine gewisse Nähe bei zeitgleicher Aufrechterhaltung von professioneller oder organisationaler Distanz ermöglichte. Ich bin nicht ganz sicher.
Doch dann setzten meine Zweifel ein. Siezen schien mir mehr und mehr Ausdruck absurder Hierarchie, ermöglicht es doch nur die Tarnung von Unfähigkeit im Schatten der Autorität. Mit welchem Anspruch dürfte ich denn diese Simulation von Autorität überhaupt praktiziere? Muss ich nicht – gerade im Sinn von Wissenschaft, Wahrheit und Kritik mich eben jenem Diskurs stellen, statt mich mit den Mitteln der Distanz zu rüsten? Das »Sie« einer Autoritätsperson ist immer auch – und davon bin ich noch immer überzeugt – ein Schutz der Autorität, unabhängig ob sie gerechtfertigt ist oder nicht. Mein Doktorvater zu dieser Zeit legte ebenfalls grossen Wert auf das Siezen. Ich hatte dazu aber eine ambivalente Haltung. Mal las ich es als eine Abwertung meiner Person, als eine Betonung der Hierarchie, der Abhängigkeit – als bedürfte es dieser Betonung in prekären Beschäftigungsverhältnissen des Wissenschaftssystems, mal wieder schien es mir eine grosse Entlastung, die es mir erlaubte, meine Beziehung als eine professionelle zu betrachten, die mir Freiräume ermöglichte: nämlich die, anderer Ansicht zu sein, die Hierarchie abzulehnen, die Kritik an der Sache festzumachen und nicht an der Person, usw. Die Sache mit dem Duzen und Siezen ist wirklich keine einfache Entscheidung.
An der Universität in Witten/Herdecke ging ich dann, nach langen Überlegungen in der Lehre zu einem »Du« über, doch legte ich Wert darauf, mich dazu zu erklären. Ich lehnte das übergriffige, sich gemein machende, kumpelhafte »Du« von ›Peers‹ ab, lehnte aber noch mehr das »Sie« als Maske haltloser Autorität, der blossen Simulation von Wissen und Wissenschaftlichkeit, als rhetorischem Trick der Universität und ideologischem Blendwerk zur Absicherung der Benotungen und Abschlüsse, deren Her- und Ausstellung die Hauptaufgabe der Organisation Universität als Massenuniversität geworden ist. Beides war mir gleich zuwider. Mein (hoffnungsvoller und zugleich wohl naiver) Versuch: das »Du« als Ausdruck der Anerkennung der basalen sozialen Beziehung schlechthin zu praktizieren, als Ausdruck der soziologischen Einsicht in die minimale Einheit des Sozialen als einer Beziehung von einem Ich und einem Du; das »Du« aber zugleich auch nicht als Kumpel-Du oder gar militärische Kameradschaftlichkeit implizierendes »Du« zu verstehen, sondern als Ausdruck höchster Achtung, das »Du« wie ein im Englischen nicht mehr gebräuchliches »Thou« – nur mehr im Bühnenenglisch oder in der religiösen Anrede Gottes heute in Verwendung. Wäre das nicht ein Ausweg?, fragte ich mich.
Die intensivere Beschäftigung mit anarchistischer politischer Theorie und einer radikalen Philosophie von Erkenntnis und Freiheit liess meinen anfänglich so motivierten Versuch zu einem »Du« von Mensch unter Menschen werden. Die Höflichkeit, so schien mir, muss gleich dem Hof und Höfischen, dem sie entstammt, und damit mit jenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen vernichtet werden. Eine viel zu grosse, pathetische Begründung für eine so winzige Geste.
Und jetzt?
Ich zweifle erneut. Mehr und mehr scheint mir mit der Art des Umgangs, ja mit meinem eigenen »Du« im Kontext der Hochschule etwas faul. Als würde ich in der nun eingewöhnten Praxis ihre sich in ihr eingeschlichenen Probleme nicht erkennen. Ich kann es nicht genau benennen, doch habe ich ein paar Vermutungen. Will man gemocht werden, schmeichelt das »Du«, obwohl ich es doch (qua Autorität – noch nie hätte jemand hier widersprochen) einführe – oft genug gegen die festen Gewohnheiten der Studierenden? Vielleicht. Die Möglichkeit versteckter Eitelkeiten schreckt mich ab. Doch es gibt noch andere Gründe, die mich zweifeln lassen.
Zum einen wird das »Du« korrumpiert von einem ekelhaften »Du« der Wirtschaft und Öffentlichkeit, das entgrenzt, nicht aber in herrschaftskritischer Absicht, sondern sich anbiedernd, schmeichelnd, ekelhaft schleimig, geschwätzig, manipulativ. Wer heute in Firmen von ›flachen Hierarchien‹ spricht, bietet entweder das »Du« an, oder duzt nach unten, widerspricht aber nicht, wenn er (sic!) zurück gesiezt wird. Die Hierarchien werden eher gefestigt als infrage gestellt, weil sie in der Unsichtbarkeit jeder expliziten Kritik entzogen werden. Daran ist alles falsch. So werden die Symbole vermeintlich herrschaftsfreier Strukturen in Wirklichkeit zu Mitteln der Herrschaft. In gleichem Zug wird der Spielraum der Distinktion des kollegialen »Dus« gegenüber dem offiziellen »Sie« gegenüber Vorgesetzten oder Personen, von denen man abhängig ist, zunichte gemacht.
Auch an der Universität begegnen einem solche Fälle weit öfter als man hofft oder von aussen denken mag. In vielen Fächern mag dies mittlerweile zum guten ›postheroischen‹, managerialen Stil gehören, der auf der Sach- und Umgangsebene Teil des Curriculums geworden ist, doch ist dies nicht Ausdruck einer Praxis einer neoliberalen und neosozialen Hochschule? Selbst bei Menschen, mit denen ich längst per »Du« bin, wünschte ich mir manchmal den Spielraum des Siezens zurück. Nein! Ich bin nicht Dein Freund, nein, ich stimme Dir nicht einfach so zu ohne dass Du es mir erläutern müsstest, warum ich Deine Sache unterstützen soll, nein, ich sage nicht einfach loyal ja. Nein, wir sind per Sie. Kennen wir uns denn dafür gut genug?
Im Kontext der Hochschullehre schliesslich fehlt mir das »Sie« noch immer aus denselben Gründen: Weiterhin besteht die Problematik, dass man Studierende prüfen muss, diese Prüfung aber keinesfalls als Ausdruck einer persönlichen Beziehung verstanden werden darf. Nicht, weil von einem erwartet wird eine Neutralität vorzutäuschen, die sonst nicht besteht, sondern im Gegenteil: weil eine Prüfung tatsächlich nicht persönlich werden darf! Sie verlöre ihren Anspruch und ihre Funktion.
Weiter gilt es bei der Vielzahl an Studierenden eine gewisse Distanz aus Gründen des Schutzes und Selbstschutzes zu wahren. Es geht hier nicht um Freundschaften und die damit verbundene Form des Vertrauens, der Zuverlässigkeit, der Nachsicht, usw., sondern um ein respektvolles Verhältnis der Distanz, das einem den freien Diskurs ermöglicht. Das ist leicht gesagt und schwer umzusetzen. Wie will man es denn so ermöglichen, dass im Seminar, in der Diskussion, im Einspruch gegen Prüfungen usw. nicht etwas qua Ein- und Ausdruck von Autorität zu sagen verhindert wird? Doch muss man sich zugleich umgekehrt fragen: wie verhindert man dies denn, wenn man sich auf die Ebene des »Du« begibt? Mir scheint, das »Du« gaukelt nur vor, etwas erreicht zu haben, was in der Praxis des Diskurses tatsächlich sehr viel komplexer ist. Eine Atmosphäre des freien Austausches, des Gesprächs auf Augenhöhe zu erreichen, ein Denken im Geist der Freundschaft (und nicht im Geist der anbiedernden Perversion der Simulation von Freundschaft), ist ein höchst anspruchsvolles Unterfangen. Sich des »Dus« zu bedienen ist möglicherweise ein sehr plumper und in der Praxis auch leicht zu durchschauender Trick.
Ich denke an Kolleginnen, die diese Atmosphäre des offenen, freien Diskurses schaffen konnten, die mich tief beeindruckt haben. Ihnen gilt mein aufrichtiger Dank. Es ist vielleicht so, dass ich heute nur durch die von ihnen gewahrte Distanz des »Sie« in diesen Kontexten überhaupt verstehen kann, was es braucht, um jenen freien Diskurs zu ermöglichen. Das »Sie« ist vielleicht gleich einer Stimmgabel, mit der man die Unstimmigkeiten der kommunikativen Praxis, der Machtdemonstration, des Schweigens hören kann. Umgekehrt sind es dann vor allem Männer, deren negatives Beispiel eines anbiedernden Dutzens das andere Extrem zeigt. Ich will so nicht sein, will so nicht werden. Die Gefahren, einen solchen falschen Habitus des Professors sich einzuverleiben sind gross genug. Niemals will ich mir das aneignen. Ich fühle mich verpflichtet, dies öffentlich zu erklären und mich dazu zu verpflichten.
Die Kritik am Habitus, das Mass eines herrschaftsfreien Diskurses von Mensch unter Menschen auf der einen Seite, auf der anderen die Ambivalenz eines verdorbenen »Dus«, die Gefahr eines Verlusts an einer Distanz gerade im Sinn des freien Diskurses lassen mich fragend, suchend zurück. Ich finde (wie so oft) einen Gedanken bei Roland Barthes über Roland Barthes:
»Sein (einzugestehender?) Traum wäre, in eine sozialistische Gesellschaft gewisse Reize (ich sage nicht: Werte) der bürgerlichen Lebenskunst hineinzutragen (es gibt – es gab einige): das nennt er Kontratempo. Diesem Traum widersetzt sich das Gespenst er Totalität, sie will, dass das bürgerliche Faktum en bloc verurteilt wird und dass jedes Sichdavonmachen des Signifikanten wie ein Lauf bestraft wird, dessen Schandfleck zurückgebracht wird. Könnte es nicht möglich sein, die (deformierte) bürgerliche Kultur zu geniessen, als wäre sie ein Exotismus?«
(Barthes 2019, 68)
Eine Kollegin schrieb mir, sie schätze den höflichen Umgang als eine feine Sache – wie wunderbar mir diese Formulierung in meinen Ohren klingt! Ist es nicht das, was Roland Barthes hier auch zu denken versucht? Dieses feine Spiel, das vorsichtige, nuancierte – wenngleich ebenfalls Barthes die Nuancen der Höflichkeit als Mythos und Ideologie der bürgerlichen Kultur kritisierte. Meine eigenen Überlegungen kommen mir hölzern und grob vor, meine Tendenz zu radikalen Lösungen scheint mir naiv. Das »Sie« als Kontratempo wäre ein Versuch des Spiels nicht zuletzt mit dem Neutrum (immer wieder Barthes), welches die strenge Dialektik und Aporie der Umgangsformen eben nicht im dialektischen Sinne aufhebt, sondern verschiebt, verlagert. »Pluralisieren, verfeinern müsste man, ohne Halt.« (Ebd. 80)
Mag sein, dass es kein richtiges »Du« in dieser Gesellschaft, in dieser Hochschule und dieser Universität gibt. Die Universität ist immer, so hoch und stark sie ihre Mauern baut, um das zu bewahren, was man einen freien Diskurs nennt (und sei es nur als Ziel), Teil der antagonistischen Gesellschaft, einer Gesellschaft der Herrschaftsverhältnisse und Widersprüche, der Abhängigkeiten und des Widerstands. Vielleicht habe ich nur die leise Hoffnung, dass aus meinem eigenen Ringen um geeignete Umgangsformen, im zärtlichen Spiel der Sprache langsam ein solches ›Verfeinern ohne Halt‹ entstehen könnte. Das »Sie« dient mir dabei auch dem transparenten Offenlegen von Macht- und Autoritätsverhältnisse in der Sprache, im Umgang untereinander, um sie so überhaupt erst der Kritik zugänglich zu machen. Wir könnten auch für diese jeden Spielraum brauchen. Vielleicht so?
Fragen Sie mich in fünf Jahren wieder. Wer weiss, wie es bis dahin ist.
(Stand: 2021-11-07)
Nachweise:
Barthes, Roland. 2019. Über mich selbst. Hg. von Jürgen Hoch und Christian Linder. Berlin: Matthes & Seitz.
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