“Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Teil II”

Folge 6 | Kunst im Zeitalter digitaler Reproduzierbarkeit

Teil 1: Rückblick: Benjamin das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Teil 2: Fortsetzung »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«

Portrait-Fotografie und die Aura // Instagram, Selfie-Kultur und die Aura des Antlitz // Film und Filmdarsteller // die Apparatur und das Verhältnis zur Wirklichkeit // das Publikum und die Apparatur // das Bedürfnis Reproduziert zu werden // technologische Veränderungen als Herausforderungen für das Publikum // Kunst und Gesellschaftskritik: Picasso vs. Chaplin // das Internet und die Aufhebung der Unterscheidung von Produzentin und Publikum?

Teil 3: Organisatorisches

Termin der Klausur: 24h Klausur KG1 11. Feb 2021 at 12:00 – 12. Feb 2021 at 12:00

ZITATE

VI

»In der Photographie beginnt der Ausstellungswert den Kultwert auf der ganzen Linie zurückzudrängen. Er bezieht eine letzte Verschanzung, und die ist das Menschenantlitz. Keineswegs zufällig steht das Portrait im Mittelpunkt der frühen Photographie. Im Kult der Erinnerung an die fernen oder die abgestorbenen Lieben hat der Kultwert des Bildes die letzte Zuflucht. Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal.« (Benjamin 2013, 485)

VII

»Hatte man vordem vielen vergeblichen Scharfsinn an die Ent- scheidung der Frage gewandt, ob die Photographie eine Kunst sei – ohne die Vorfrage sich gestellt zu haben: ob nicht durch die Erfindung der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe – so übernahmen die Filmtheoretiker bald die entsprechende voreilige Fragestellung.« (486)

VIII

»Das Publikum fühlt sich in den Darsteller nur ein, indem es sich in den Apparat einfühlt. Es übernimmt also dessen Haltung: es testet. Das ist keine Haltung, der Kultwerte ausgesetzt werden können.«  (488)

X

»Das Befremden des Darstellers vor der Apparatur, wie Pirandello es schildert, ist von Haus aus von der gleichen Art wie das Befremden des Menschen vor seiner Erscheinung im Spiegel. Nun aber ist das Spiegelbild von ihm ablösbar, es ist transportabel geworden. Und wohin wird es transportiert? Vor das Publikum. Das Bewusstsein davon verlässt den Filmdarsteller nicht einen Augenblick. Der Filmdarsteller weiss, während sie vor der Apparatur steht, hat sie es in letzter Instanz mit dem Publikum zu tun: dem Publikum der Abnehmer, die den Markt bilden.« (491f.)

“Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht. Solange das Filmkapital den Ton angibt, läßt sich dem heutigen Film im allgemeinen kein anderes revolutionäres Verdienst zuschreiben, als eine revolutionäre Kritik der überkommenen Vorstellungen von Kunst zu befördern. Wir bestreiten nicht, daß der heutige Film in besonderen Fällen darüber hinaus eine revolutionäre Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, ja an der Eigentumsordnung befördern kann. Aber darauf liegt der Schwerpunkt der gegenwärtigen Untersuchung ebenso wenig wie der Schwerpunkt der westeuropäischen Filmproduktion darauf liegt.” (491)

“Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.” (492)

“Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Sie wird eine funktionelle, von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit be- reit, ein Schreibender zu werden. (…) Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet, und so Gemeingut.” (492)

XI

“Im Filmatelier ist die Apparatur derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, ‘Vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigens eingestellten photographischen Apparat und ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen ‘Von der gleichen Art ist. Der apparatfreie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen BIume im Land der ‘Technik.” (495)

“Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kamera- mann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammen finden. So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvollere, weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.” (496)

XII

“Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten, z. B. einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste, z.B. angesichts eines Chaplin, um. Dabei ist das fortschrittliche Verhalten dadurch gekennzeichnet, daß die Lust am Schauen und am Erleben in ihm eine unmittelbare und innige Verbindung mit der Haltung des fachmännischen Beurteilers eingeht. Solche Verbindung ist ein wichtiges gesellschaftliches Indizium. Je mehr nämlich die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich vermindert, desto mehr fallen – wie das deutlich angesichts der Malerei sich erweist – die kritische und die genießende Haltung im Publikum auseinander. Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Widerwillen. Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen.” (498)

Quelle:

Benjamin, Walter. 2013. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung). In: Gesammelte Schriften, Band I.II Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno, und Gershom Scholem, 471–508. 6. Aufl. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 931. Frankfurt am Main: Suhrkamp.


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