“Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit”, Teil 2

2020-06-11 | Folge 8 | 

Teil 1: RückblickBenjamin Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit”

“die Aura” // Kultwert (Ritualwert) vs. Ausstellungswert // Mit der Emanzipation der einzelnen Kunstübungen aus derm Schosse des Rituals wachsen die Gelegenheiten zur Ausstellung ihrer Produkte. // Quantitativer Unterschied schlägt in einen qualitativen um

Teil 2: Weiter im Text “Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit”

Film und Filmdarsteller // die Apparatur und das Verhältnis zur Wirklichkeit // das Publikum und die Apparatur // das Bedürfnis Reproduziert zu werden // technologische Veränderungen als Herausforderungen für das Publikum // Kunst und Gesellschaftskritik: Picasso vs. Chaplin, Malerei vs. Kino

Teil 3: Aufgabe der Woche

ein Werk zur Frage der Durchdringung von Apparatur und Wirklichkeit 

Teil 4: Organisatorisches

Prüfungsleistung // Termin // Art // Abschlusstreffen auf Zoom: Letztes Treffen per Zoom: am 2. Juli, 13:30 – 15 Uhr

ZITATE

X

»Das Befremden des Darstellers vor der Apparatur, wie Pirandello es schildert, ist von Haus aus von der gleichen Art wie das Befremden des Menschen vor seiner Erscheinung im Spiegel. Nun aber ist das Spiegelbild von ihm ablösbar, es ist transportabel geworden. Und wohin wird es transportiert? Vor das Publikum. Das Bewusstsein davon verlässt den Filmdarsteller nicht einen Augenblick. Der Filmdarsteller weiss, während sie vor der Apparatur steht, hat sie es in letzter Instanz mit dem Publikum zu tun: dem Publikum der Abnehmer, die den Markt bilden.« (491f.)

“Der vom Filmkapital geförderte Starkultus konserviert jenen Zauber der Persönlichkeit, der schon längst nur noch im fauligen Zauber ihres Warencharakters besteht. Solange das Filmkapital den Ton angibt, läßt sich dem heutigen Film im allgemeinen kein anderes revolutionäres Verdienst zuschreiben, als eine revolutionäre Kritik der überkommenen Vorstellungen von Kunst zu befördern. Wir bestreiten nicht, daß der heutige Film in besonderen Fällen darüber hinaus eine revolutionäre Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, ja an der Eigentumsordnung befördern kann. Aber darauf liegt der Schwerpunkt der gegenwärtigen Untersuchung ebenso wenig wie der Schwerpunkt der westeuropäischen Filmproduktion darauf liegt.” (491)

“Jeder heutige Mensch kann einen Anspruch vorbringen, gefilmt zu werden.” (492)

Am Beispiel des Schrifttums:

“Damit ist die Unterscheidung zwischen Autor und Publikum im Begriff, ihren grundsätzlichen Charakter zu verlieren. Sie wird eine funktionelle, von Fall zu Fall so oder anders verlaufende. Der Lesende ist jederzeit be- reit, ein Schreibender zu werden. (…) Die literarische Befugnis wird nicht mehr in der spezialisierten, sondern in der polytechnischen Ausbildung begründet, und so Gemeingut.” (493)

XI

“Im Filmatelier ist die Apparatur derart tief in die Wirklichkeit eingedrungen, daß deren reiner, ‘Vom Fremdkörper der Apparatur freier Aspekt das Ergebnis einer besonderen Prozedur, nämlich der Aufnahme durch den eigens eingestellten photographischen Apparat und ihrer Montierung mit anderen Aufnahmen ‘Von der gleichen Art ist. Der apparat- freie Aspekt der Realität ist hier zu ihrem künstlichsten geworden und der Anblick der unmittelbaren Wirklichkeit zur blauen BIume im Land der ‘Technik.” (495)

“Magier und Chirurg verhalten sich wie Maler und Kameramann. Der Maler beobachtet in seiner Arbeit eine natürliche Distanz zum Gegebenen, der Kamera- mann dagegen dringt tief ins Gewebe der Gegebenheit ein Die Bilder, die beide davontragen, sind ungeheuer verschieden. Das des Malers ist ein totales, das des Kameramanns ein vielfältig zerstückeltes, dessen Teile sich nach einem neuen Gesetze zusammen finden. So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvollere, weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.” (496)

XII

“Die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks verändert das Verhältnis der Masse zur Kunst. Aus dem rückständigsten, z. B. einem Picasso gegenüber, schlägt es in das fortschrittlichste, z~ B. angesichts eines Chaplin, um. Dabei ist das fortschrittliche Verhalten dadurch gekennzeichnet, daß die Lust am Schauen und am Erleben in ihm eine unmittelbare und innige Verbindung mit der Haltung des fachmännischen Beurteilers eingeht. Solche Verbindung ist ein wichtiges gesellschaftliches Indizium. Je mehr nämlich die gesellschaftliche Bedeutung einer Kunst sich vermindert, desto mehr fallen – wie das deutlich angesichts der Malerei sich erweist – die kritische und die genießende Haltung im Publikum auseinander. Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Widerwillen. Im Kino fallen kritische und genießende Haltung des Publikums zusammen. “

XIII

“Es wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander fielen, als identisch erkennbar zu machen. Indem der Film durch Großaufnahmen aus ihrem Inventar, durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs, auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern! Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so daß wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung. Und so wenig es bei der Vergrößerung sich um eine bloße Verdeutlichung dessen handelt, was man »ohnehin« undeutlich sieht, sondern vielmehr völlig neue Strukturbildungen der Materie zum Vorschein kommen, so wenig bringt die Zeitlupe nur bekannte Bewegungsmotive zum Vorschein, sondern sie entdeckt in diesen bekannten ganz unbekannte, »die gar nicht als Verlangsamungen schneller Bewegungen sondern als eigentümlich gleitende, schwebende, überirdische wirken.«” (499-500)

Quelle:

Benjamin, Walter. 2013. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Dritte Fassung). In: Gesammelte Schriften, Band I.II Abhandlungen, hg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno, und Gershom Scholem, 471–508. 6. Aufl. suhrkamp taschenbuch wissenschaft 931. Frankfurt am Main: Suhrkamp.


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